Längeres Erwerbsleben in Europa: Trends, regionale Unterschiede und Zukunft der Arbeit

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By Johanna

Europa durchläuft einen tiefgreifenden demografischen Wandel, bei dem steigende Lebenserwartungen die Dynamik des Arbeitsmarktes grundlegend neu gestalten. Dieser Wandel führt auf dem gesamten Kontinent zunehmend zu längeren Erwerbsleben und erzwingt eine Neubewertung von Altersnormen und Arbeitsmarktpolitiken. Das Verständnis der Nuancen dieses Trends, von seiner allgemeinen Beschleunigung bis zu den ausgeprägten regionalen Unterschieden, ist für politische Entscheidungsträger und Unternehmen, die sich in einer sich entwickelnden Arbeitswelt zurechtfinden müssen, von entscheidender Bedeutung.

  • Im Jahr 2024 erreichte die durchschnittliche erwartete Arbeitslebensdauer in der EU 37,2 Jahre, ein Anstieg um 2,4 Jahre seit 2014.
  • Es bestehen erhebliche regionale Unterschiede, von 30,2 Jahren in der Türkei bis 46,3 Jahren in Island.
  • Nordeuropäische Länder wie Island (46,3 Jahre) und die Niederlande (43,8 Jahre) verzeichnen die längsten Erwerbsleben.
  • Wesentliche Faktoren für diese Variationen sind die Arbeitsnachfrage, institutionelle Rahmenbedingungen und vorherrschende Familienmodelle.
  • Die Erwerbsbeteiligungsquote erklärt statistisch rund 81,5 % der Varianz der erwarteten Arbeitslebensdauer.
  • Die OECD prognostiziert, dass das durchschnittliche Rentenalter in der EU bis 2060 auf etwa 67 Jahre steigen wird.

Aktuelle Eurostat-Daten unterstreichen diesen sich verstärkenden Trend. Im Jahr 2024 erreichte die durchschnittliche erwartete Arbeitslebensdauer in der Europäischen Union 37,2 Jahre. Dies stellt einen deutlichen Anstieg von 2,4 Jahren oder 7 % gegenüber 2014 dar, als der Durchschnitt bei 34,8 Jahren lag. Dieser Aufwärtstrend verdeutlicht eine breitere gesellschaftliche Anpassung an die gestiegene Langlebigkeit, die sich auf Rentensysteme, Personalplanung und die wirtschaftliche Produktivität auswirkt.

Trotz dieses allgemeinen Aufwärtstrends bestehen europaweit erhebliche Unterschiede in der erwarteten Arbeitslebensdauer. Innerhalb der EU reichen die Zahlen von einem Tiefstwert von 32,7 Jahren in Rumänien bis zu einem Höchstwert von 43,8 Jahren in den Niederlanden. Erweitert man den Geltungsbereich auf EU-Kandidaten- und EFTA-Länder, wird die Disparität noch ausgeprägter und reicht von 30,2 Jahren in der Türkei bis zu beeindruckenden 46,3 Jahren in Island. Diese Schwankungen sind nicht zufällig, sondern folgen oft erkennbaren geografischen Mustern.

Regionale Disparitäten bei der Arbeitslebensdauer

Nordeuropäische Länder, insbesondere die in der nordischen Region, weisen konstant die längsten Erwerbsleben auf. Island führt die Gesamtliste an, dicht gefolgt von EU-Mitgliedstaaten wie den Niederlanden (43,8 Jahre) und Schweden (43 Jahre). Dänemark (42,5 Jahre), Norwegen (41,2 Jahre) und Finnland (39,8 Jahre) gehören ebenfalls zu den Spitzenreitern. Westeuropäische Länder zeigen im Allgemeinen überdurchschnittliche Dauern, wobei die Schweiz (42,8 Jahre), Irland (40,4 Jahre) und Deutschland (40 Jahre) die 40-Jahre-Marke überschreiten. Einige westeuropäische Volkswirtschaften, darunter Frankreich (37,3 Jahre), Belgien (35 Jahre) und Luxemburg (35,6 Jahre), liegen jedoch näher am oder unter dem EU-Durchschnitt. Für das Vereinigte Königreich deuteten Daten aus dem Jahr 2018 auf 39,2 Jahre hin, eine Zahl, die angesichts des vorherrschenden Trends heute wahrscheinlich höher ist.

Im Gegensatz dazu zeigen südeuropäische Länder ein gemischtes Bild. Während Portugal (39,3 Jahre) und Malta (39 Jahre) relativ lange Erwerbsleben aufweisen, verzeichnen Länder wie Italien (32,8 Jahre), Griechenland (34,8 Jahre) und Spanien (36,5 Jahre) deutlich kürzere Dauern. Ähnlich verhält es sich mit den osteuropäischen Ländern, die größtenteils um oder leicht unter dem EU-Durchschnitt liegen, wobei Ungarn bei 37,4 Jahren liegt, während andere wie Rumänien (32,7 Jahre) und Bulgarien (34,8 Jahre) erheblich kürzere erwartete Arbeitsleben melden. Die kürzesten Dauern werden typischerweise in Südosteuropa und auf dem Balkan beobachtet, beispielsweise in der Türkei (30,2 Jahre), Nordmazedonien (31,5 Jahre) und Montenegro (32,1 Jahre).

Faktoren, die die Variation antreiben

Die ausgeprägten Unterschiede in der erwarteten Arbeitslebensdauer zwischen den europäischen Nationen lassen sich auf eine Vielzahl wirtschaftlicher, institutioneller und gesellschaftlicher Faktoren zurückführen. Laut Prof. Moritz Hess von der Hochschule Niederrhein spielt die Nachfrageseite eine entscheidende Rolle: Eine robuste Nachfrage der Arbeitgeber nach Arbeitskräften führt im Allgemeinen zu einer erhöhten Erwerbsbeteiligung und längeren Arbeitsleben. Dieser wirtschaftliche Imperativ drängt Einzelpersonen dazu, länger im Erwerbsleben zu bleiben.

Darüber hinaus beeinflusst der institutionelle Kontext, insbesondere im Zusammenhang mit Renten- und Arbeitsmarktregelungen, diese Dauern erheblich. Ein höheres offizielles Rentenalter und weniger Frühverrentungsoptionen innerhalb eines Rentensystems korrelieren direkt mit längeren erwarteten Arbeitsleben, da sie Einzelpersonen dazu ermutigen, ihren Austritt aus dem Arbeitsleben zu verzögern. Prof. Hess hob auch die Auswirkungen von Altersdiskriminierung hervor; in Volkswirtschaften, in denen ältere Arbeitnehmer geschätzt und nicht diskriminiert werden, sind sie eher geneigt, weiterzuarbeiten, wodurch sie zu längeren Karrieren beitragen. Timo Anttila, Senior Lecturer an der Universität Jyväskylä in Finnland, fügte hinzu, dass auch vorherrschende Familienmodelle, wie Ein- versus Zwei-Verdiener-Haushalte und familiäre Betreuungsstrukturen, sowie die Art der Rentensysteme, wichtige Bestimmungsfaktoren sind.

Die Eurostat-Analyse betont ferner, dass die Erwerbsbeteiligungsquote die primäre erklärende Variable für die Dauer des Arbeitslebens ist. Länder mit niedrigeren Beteiligungsquoten weisen tendenziell kürzere durchschnittliche Arbeitsleben auf. Diese statistische Korrelation ist stark, wobei die Erwerbsbeteiligungsquote etwa 81,5 % der Varianz der erwarteten Arbeitslebensdauer erklärt.

Mit Blick auf die Zukunft wird sich der Trend zu längeren Arbeitsleben voraussichtlich fortsetzen. Viele europäische Länder haben bereits Maßnahmen eingeleitet, um ihr offizielles Rentenalter anzuheben. Die OECD prognostiziert, dass das durchschnittliche Rentenalter in der EU bis 2060 auf etwa 67 Jahre ansteigen wird, wobei mehrere Nationen voraussichtlich 70 Jahre überschreiten werden. Diese fortlaufende Anpassung spiegelt sowohl die demografische Realität einer alternden Bevölkerung als auch die wirtschaftliche Notwendigkeit wider, öffentliche Rentensysteme zu erhalten und robuste Arbeitskräftepools aufrechtzuerhalten.

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